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Aufbruch und Wiederkehr Zur Stellung von Isabelle im Werk André Gides

Von allen Erzählungen Gides hat Isabelle den schlechtesten Ruf. Bezeichnend für das Negativurteil der Kritik ist, was Klaus Mann in seinem Gide-Buch1 schreibt: “Unleugbar, Isabelle ist ein schwaches Buch – eines von Gides schwächsten”. Der Autor der Caves du Vatican und der Faux-Monnayeurs, den Klaus Mann bewunderte, gründlich gelesen hat und auch persönlich kannte, habe (sagt er) “zur Abwechslung einmal etwas Idyllisch-Harmloses” schreiben wollen und eine “seltsam unpersönliche Erzählung voll barocker Details und wehmütiger Drolligkeiten geschrieben.” Andere Kenner übergehen die Erzählung von 1910 mit Schweigen, so der Verfasser der ausgezeichneten Einleitung in die Ausgabe der Romans, récits et soties in der “Bibliothèque de la Pléiade”, Maurice Nadeau. Ich hatte von einer früheren Lektüre einen ganz anderen, weit positiveren Eindruck und habe mir kürzlich Isabelle noch einmal vorgenommen. Was Klaus Mann “seltsam unpersönlich” nennt, schien mir eher für die Absicht des Autors zu sprechen, die Erzählung in streng-klassischem Stile zu schreiben, ohne Erzählerinterventionen und Leseranreden und in einem steten, zuerst ruhig daherfließenden Duktus, der sich von der Mitte an allmählich beschleunigt und in einem Prestissimo-Finale endet, das dem Leser den Atem nimmt – vorausgesetzt, er hat sich in die Figuren, vor allem den Erzähler, hineinversetzt. Die Erzählung beginnt wenn nicht “idyllisch-harmlos”, so doch in einem sachlichen Berichtston, man fängt jedoch schon da angesichts der spukhaften Greisengestalten, die das Schloss Quartfourche, wo die Handlung spielt, bewohnen, an, zugleich die Beschreibung der Personen zu bewundern, die wirklich meisterhaft ist, und schaudernd zu registrieren, dass es so etwas noch gibt oder gab; zwei gleichermaßen schrullige, völlig weltfremde, verkalkte Ehepaare, Monsieur und Madame Floche sowie Baron und Baronin von Saint-Auréol, die letzteren die Besitzer des verschuldeten Schlosses in der Normandie, die ersteren deren Mieter. Dazu eine alte Dienstmagd und, wie wir später erfahren, ein in Treue ergrauter Hausknecht. Ferner ein zynisch-heuchelnder Geistlicher, dem die Erziehung eines Knaben, Casimir, im Alter von zehn oder zwölf Jahren anvertraut ist und die er dazu nutzt, eine Abhandlung über Averroès (ausgerechnet!) ins Reine schreiben zu lassen. Vom Erzähler, Gérard Lacase, zur Rede gestellt, erklärt der Abbé, Casimir sei zu dumm, um das übliche Schulwissen zu erwerben, da übe er sich wenigstens im Schönschreiben. Dass er den theologischen Text, mit dem der Geistliche höhere Weihen zu erlangen hofft, nicht verstehen kann, interessiert den Tartuffe nicht. Ich kann nicht finden, dass dieses Personal zu so etwas wie einer “wehmütigen Drolligkeit” genutzt wird. Es ist echter Gide und kann einem Vergleich mit den Personen in den Caves du Vatican oder den Faux-Monnayeurs durchaus standhalten.

Seiten 136 - 142

DOI: https://doi.org/10.37307/j.1866-5381.2011.01.10
Lizenz: ESV-Lizenz
ISSN: 1866-5381
Ausgabe / Jahr: 1 / 2011
Veröffentlicht: 2011-06-30
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Dokument Aufbruch und Wiederkehr Zur Stellung von Isabelle im Werk André Gides