In dirre wilden cluse: Gottfrieds von Straßburg Minnegrotten-Episode und die Eremitenlegende

Die Episode der “Minnegrotte” gehört zu den am meisten diskutierten und rätselhaftesten Passagen in Gottfrieds ‘Tristan’. Für Eilhart von Oberg haben die ehebrecherischen Liebenden, die in die Wildnis verbannt wurden, ain leben hert / in dem wilden wald, bei seinem Nachfolger Gottfried dagegen führt das Paar in der Verbannung bekanntlich ein wunschleben (V. 16846). Sie wohnen an einem idyllischen Ort in einer kunstvoll erbauten “Minnegrotte”, deren architektonische Details die Tugenden der Minne allegorisch darstellen, und erleben das Wunder, weder Speise noch Gesellschaft zu vermissen, da sie einander als geistige Speise und Gesellschaft dienen. Wie ist Gottfrieds literarische Neuerung zu interpretieren?

Die Forschung hat sich mit dieser Episode ausführlich und kontrovers beschäftigt, die verschiedensten möglichen Einflüsse und thematischen Aspekte wurden diskutiert. Vor allem war ein bereits 1925 erschienener Aufsatz von Friedrich Ranke wegweisend: ‘Die Allegorie der Minnegrotte in Gottfrieds ‘Tristan’’. Er betont den Unterschied zu früheren Tristanversionen, das Waldleben werde “idealisiert und vergeistigt”, die Minnegrotte sei für Gottfried ein “Gotteshaus”, das “der Ehre der symbolischen Auslegung teilhaftig” werde.

Ranke vergleicht die Liebenden mit ihren Gesängen und ihrem Leben ohne irdische Nahrung mit Eremiten, die sich nach Legenden “in der Einöde ohne jede leibliche Nahrung in ständigem Gebet und Psalmensingen allein am Schauen Gottes gesättigt haben.” Er führt jedoch diesen Gedanken nicht weiter fort. Dass das Speisewunder eremitischen Charakters sein kann, haben auch Lambertus Okken und Tomas Tomasek festgestellt, aber diese Beobachtung nicht weiter gedeutet. Die vorliegende Arbeit knüpft an dieser Stelle an. Fragen stellen sich: Wie sind die Eremitenviten gestaltet? Wie werden die Schemata der Legenden in der Romanepisode transformiert und welche Sinnfunktionen haben sie?

Seiten 241 - 259