Inhalt der Ausgabe 02/2016
Inhalt
Aufsätze
Bislang hat die Literaturwissenschaft kein begriffliches Instrumentarium entwickelt, das in der Lage ist, Editionen in ihrem historischen Kontext zu beschreiben. Unter Rückgriff auf Genettes Überlegungen zur Paratextualität wie Kittlers Analyse von Aufschreibeystemen entwickelt der Aufsatz das Modell einer medienkulturwissenschaftlich argumentierenden, historischen Editionsanalyse und kann dergestalt Friedrich Schlegels Lessing-Edition (1804/10) – gegen literaturkritische und -wissenschaftliche Verdikte – als genuinen Beitrag zur Philologiegeschichte verstehbar machen.
Als Exponent der vormärzlichen Übergangszeit zwischen überholten sinnstiftenden, allegorischen Modellen und dem wachsenden Bewusstsein der Kontingenz, die eine eschatologische oder auch immanent-teleologische Perspektive der Geschichte zutiefst problematisiert, befindet sich der Dramatiker Christian Dietrich Grabbe am Anfang des 19. Jahrhunderts in einem nicht zu leugnenden Bruch zwischen ‚alten‘ und ‚neuen‘ Zeiten. Mit dem Verschwinden Napoleons hat sich laut Grabbe eine ‚posthistorische‘ Spektakelgesellschaft durchgesetzt, in der die Geschichte (mit Walter Benjamin gesprochen) ‚in den Schauplatz hineingewandert‘ ist und die ‚entleerte Zeit‘ nur noch ‚maskenhaft‘ neubelebt werden kann.
Der Aufsatz beschreibt die im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts zu beobachtende Konjunktur der Fiktionalisierung von Reflexion am Beispiel des Erlösungsdiskurses. Dazu werden anhand von Werken Georg Lukács’, Hermann Brochs und Robert Musils drei Stufen der Fiktionalisierung von Reflexion unterschieden, die sich durch wachsende Distanz zu einem nicht-fiktionalen, primär an Wahrheit orientierten Diskurs auszeichnen: (a) die Radikalisierung bei gleichzeitiger Relativierung von Erlösungsvorstellungen, (b) ihre erzählerische Funktionalisierung zur Figurenkonstruktion und -charakterisierung und (c) die ‚Mumifikation‘ des Erlösungsdiskurses. Ferner werden verschiedene Arten und Dimensionen der Relativierung von Reflexion in fiktionalen Texten beschrieben und kategorisiert.
Die Verbannung des Dichters Ovid durch Kaiser Augustus ist bis heute eine Leerstelle der römischen Geschichtsschreibung. In Christoph Ransmayrs „Die letzte Welt“ wird dieses Ereignis als biopolitische Urszene dargestellt, an dem das paradoxe Wesen politischer Souveränität zum Vorschein kommt. Der Beitrag stellt Ransmayrs Roman in den Kontext jüngerer philosophischer und juristischer Diskussionen zum Ausnahmezustand als Paradigma der modernen Politik und zeigt auf, inwiefern „Die letzte Welt“ als literarischer Text noch selbst im Banne des Signifikanten Rom steht.
Der Aufsatz präsentiert den wenig bekannten „Gustav“-Roman der DDR-Autorin und Germanistin Irmtraud Morgner als ebenso markanten wie speziellen Fall einer literarisch produktiven Reaktion auf Zensur unter Vergleich mit zwei der Forschung geläufigeren Fällen, Christa Wolfs „Nachdenken über Christa T.“ und Volker Brauns „Hinze-Kunze-Roman“. Morgners – gemäß Untertitel – „lügenhafter Roman mit Kommentaren“ in Form von fiktionalen Fußnoten, die den wissenschaftlichen Umgang mit Literatur ins poetische Spiel mitverstricken, aktualisiert Literaturtraditionen von besonderer Konjunktur um 1800, indem die Anmerkungen das nunmehr zeitgemäße literaturwissenschaftliche (Gesamt-)Deutungsbegehren ironisieren und die Figur der Wissenschaftlerin in die männlich dominierte Literaturgeschichte der Herausgeberfiktion einführen.
Geradezu überschwänglich rühmt Lessing zu Beginn des 75. „Dramaturgie“-Stücks eine zuvor in vollem Wortlaut abgedruckte Passage aus Mendelssohns „Rhapsodie“ (1761) und integriert einzelne der dort gefundenen Formulierungen in die Darlegung seines Aristoteles-Verständnisses. Neuere wie ältere Interpreten sind hierdurch zu der Überzeugung geführt worden, Lessings Mitleidsverständnis habe im Laufe der „Dramaturgie“ eine schwerwiegende Änderung erfahren, sei zumindest „vorübergehend“ in einen Widerspruch geraten.
Tagungsbericht
Buchbesprechungen
Aufklärungs-Forscher wie Jonathan Sheehan und David Sorkin haben in den letzten Jahren entschieden für die Untrennbarkeit von Aufklärung und Religiösität plädiert. Ein wichtiges Beispiel ist die im Jahr 2008 erschienene Studie Sorkins „The Religious Enlightenment: Protestants, Jews, and Catholics from London to Vienna“, ein Werk, das den Höhepunkt von Sorkins langjähriger Beschäftigung mit der europäischen Aufklärung als eines Schauplatzes interreligiöser Beziehungen darstellt. Ausgehend von seiner Lektüre theologischer Schriften des 18. Jahrhunderts behauptet Sorkin, dass die Aufklärung gegenüber theologischen Praktiken nicht grundsätzlich feindlich eingestellt war, sondern dass die Epoche von bestimmten Arten liturgischer Lektüre dominiert wurde.
Mit seiner Abhandlung über die „Sprache der Infamie“ stellt Achim Geisenhanslüke die grundsätzliche Frage nach der Darstellbarkeit der Infamie und der Infamen, die derart entehrt sind, dass ihnen wesentliche Formen des Auftritts, der Darstellung und Anerkennung verwehrt bleiben. Auf die Möglichkeit einer anderen Darstellung solcher Infamen hin, die als Ausgeschlossene nicht für sich selbst sprechen können oder wollen, befragt er die Literatur. Damit stellt er die grundsätzliche Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit einer Geschichte der Infamen, die prominent Foucault aufgeworfen hatte, noch einmal neu, diesmal aus der Perspektive eines Literaturwissenschaftlers. Was sind die Quellen einer solchen Geschichtsschreibung?
Mit dem anzuzeigenden Werk liegt eine Einzeldarstellung der Aufnahme russischer Literatur im deutschsprachigen Raum vor. Auf der Basis einer umfassenden Beschreibung der Wirkung der russischen auf die deutschsprachige Literatur gewährt die Monographie einen gebündelten Zugang zu der über die Jahrhunderte gewachsenen tiefgehenden Beziehung der beiden literarischen Kulturen. Jürgen Lehmann, emeritierter Professor für Vergleichende Literaturwissenschaft und Neuere Deutsche Literaturgeschichte an der Universität Erlangen-Nürnberg, Slavist und Germanist, ist prädestiniert für dieses komplexe Unternehmen.
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